"Dei Watermöhm" und die Glocken im Ploggenee
Vor vielen Jahren, als Krieg, Mord, Brand und große Not unsere Stadt bedrohten, und als auch Plünderungen durch die nahenden Feinde zu erwarten waren, versenkten die Grevesmühlener Bürger ihre drei schönen, alten bronzenen Kirchenglocken in dem nahen See nördlich der Stadt, damit kein Feind sie mitnehmen konnte. Als nach Jahren der große Krieg beendet war, lag die einst so rührige Stadt verödet und verwaist. Leer und ausgestorben war der Ort, die Häuser und Hütten waren niedergebrannt, Gras und Gestrüpp wucherten in den einst so belebten Straßen. Die meisten Bürger waren getötet, verhungert oder an der Pest gestorben. Ein kleiner Rest flüchtete.
Von den wenigen Bürgern, die später zurückkehrten, wusste niemand mehr, wo die alten Kirchenglocken abgeblieben waren. Da die Bewohner der Stadt aber zu arm waren, um sich neue zu beschaffen, hofften sie doch noch immer, die Glocken eines Tages wiederzufinden. Von den Stadtvätern wurde eine namhafte Summe als Belohnung für denjenigen ausgesetzt, der die verlorenen Glocken wieder herbeischaffen konnte.
Zu den Ärmsten der Armen gehörte zu dieser Zeit ein Fischer. Er wohnte mit seiner Frau und seinen beiden gutgearteten Kindern, Peter und Lenchen, in einer mit Schilf und Stroh bedeckten altersschwachen Hütte nahe am See. Die Fischerleute wussten um den Finderlohn, den der Rat der Stadt ausgesetzt hatte. Sie suchten und suchten schon jahrelang, in der Hoffnung, die Glocken zu finden und das Geld zu erhalten. Denn gebrauchen konnten sie es wahrlich, zumal es mit dem Fischfang von Jahr zu Jahr schlechter wurde. Auch lag die arme Frau oft krank, und die heranwachsenden Kinder brauchten mehr Nahrung und Kleidung. So ging die Zeit hin. Die Familie führte ein bescheidenes und rechtschaffenes Leben, doch Schmalhans blieb Küchenmeister, und trockenes Schwarzbrot mit geriebenen Möhren war Sonntagskost.
Eines schönen Tages saß der Fischer traurig und fast verzweifelt in seinem Kahn. Er war die ganze Nacht auf dem See und hatte, wie so oft in letzter Zeit, wieder nichts gefangen. Geldbeutel und Brotschrank waren leer. Die Frau bedurfte dringend Arznei, um wieder gesund zu werden, und die Kinder wuchsen aus allen Kleidern. Flehentlich rief der Fischer über den See: "Wer-wer hilft mir?" Da -, plötzlich tauchte neben seinem Boot der altersgraue, mit strähnigem, schilfigem Haar bewachsene Kopf der argen Wasserfrau oder Wassermuhme aus den Fluten des Sees auf Im Volksmund nannte man sie auch "die Watermöhm". Sie schüttelte sich, dass die Wassertropfen weit umherflogen, richtete ihre kalten grüngrauen Augen auf den Mann, verzog ihren fast zahnlosen breiten Mund zu einem hässlichen Grinsen und hub also an: "Lieber Freund, ich kenne Dich schon lange. Ich habe Dich oft aus dem Schilfdickicht oder vom Grunde des Wassers aus beobachtet. Ich weiß um deine Not und deine Sorgen und will dir helfen. Ich werde Dir die Glocken herausgeben, wofür Du ja einen tüchtigen Erlös erhalten wirst. Du kannst damit all Deine Last loswerden, kannst deine Schulden bezahlen und deinem Weibe die so dringend benötigte Arznei kaufen. Du kannst dir ein neues, nettes Häuschen bauen und sonntägliche feine Kleider für Euch alle anschaffen. Ihr könnt euch dann täglich satt essen, und an Sonn- und Feiertagen brauchen Braten und Kuchen nicht zu fehlen . Du wirst viele Fische fangen; ich werde sie dir jede Nacht in Deine Netze treiben. Mit den Jahren wirst Du ein angesehener und reicher Mann werden, wenn Du mir heute in drei Jahren um die gleiche Stunde Deine beiden Kinder überlässt."
Nach langem Zögern sagte der Fischer zu dem Angebot der alten Wasserfrau endlich ,ja", hoffte er doch im stillen, Gott möge ihm verzeihen und helfen. Das Leben seiner lieben Frau musste erhalten bleiben, und was die Kinder betraf, so würde ihm mit der Zeit schon etwas Rechtes einfallen, um zu verhüten, dass die alte "Möhm" sie bekäme. Der Fischer sagte nochmals: , Ja - ja -, Du kannst sie dann haben, doch darfst Du nur ein einziges Mal mit Deinen langen Armen nach Peter und Lenchen greifen. Er wischt Du die Kinder dann nicht, so seien sie frei." Die Möhm blinzelte siegesgewiss und kicherte schadenfroh. Sie ging auf den Vorschlag ein. Sie vertraute ihren langen, gierigen, schnell und sicher zupackenden Fangarmen, grinste breit, wiederholte noch einmal die Bedingungen und warnte den Fischer. Falls er die Abmachung nämlich nicht genau einhalte, würde sein Weib, die gute Mutter seiner Kinder, am selben Tage sterben.
Dem armen Fischer war's grausig zumute. Er hörte nur noch ein Klatschen und Platschen um sich her. Als er aus seinem Hinbrüten erwachte, lagen dicht neben ihm am Ufer zwei der drei bronzenen, lange gesuchten Kirchenglocken. Aus der Tiefe des Wassers hörte er die Möhm rufen: "Nimm die Glocken, die dritte bekommst Du nach drei Jahren." Der Fischer kehrte heim. Er erhielt eine gute Belohnung von der Stadt und fing nun jede Nacht viele Fische. Seine Frau, der er von dem Handel mit der bösen Wassermuhme nichts erzählt hatte, wurde wieder ganz gesund.
Die Kinder wuchsen fröhlich heran, und in dem neuen Häuschen, das er sich anstelle der alten Hütte hatte bauen können, war eitel Frohsinn und Sonnenschein. Ein treues Hündchen bewachte das Haus und war zugleich der liebste Spielkamerad von Peter und Lenchen. Die Kinder hatten es aus mitfühlendem Herzen bösen Knaben abgejagt, die aus reiner Lust am Quälen, das arme Tier grausam gemartert und furchtbar zugerichtet hatten. Die Geschwister wuschen dem blutenden Tierchen die Wunden und legten heilende Kräuter darauf. Sie verbanden seine Beine, gaben ihm die besten Bissen und pflegten es mit viel Liebe und Geduld wieder gesund. "Muli" wie die Kinder das Hündchen nannten, dankte es ihnen durch treue Anhänglichkeit. Die Zeit ging dahin!
Drei Jahre waren vergangen, und Tag und Stunde rückten immer näher, wo die ahnungslosen Kinder vom Elternhaus, vom Vater und von der lieben Mutter getrennt und der bösen Muhme im See übergeben werden mussten. Der Vater sann und grübelte, wie er das Unheil abwenden und der alten Wasserhexe ein Schnippchen schlagen könnte, um großes Leid von den seinen fernzuhalten. Doch nichts Gescheites war ihm bislang eingefallen. Manche lange Nacht saß er in letzter Zeit traurig am See, doch kein Ausweg ließ sich finden. Morgen, wenn die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne über die "Hamberge" auf den See fielen, musste das Grausige geschehen.
Es war Ostertag. Die Kinder hatten schon immer gebeten, am Ostermorgen den tanzenden Feuerball, die Sonne, aufgehen zu sehen. Jetzt versprach ihnen der Vater, das herrliche Naturschauspiel zu zeigen. Waren doch gerade Tag und Stunde der gegebenen Abmachung da. Früh am Morgen, als die gute Mutter noch schlief, ging es schon zum nahen See. Fröhlich sprangen die Kinder dem betrübten Vater voraus und riefen dem Zögernden zu: "Komm, komm schnell, es glüht schon im Osten hinter dem Berge!" Sie standen alle drei auf dem Bootssteg, als die ersten leuchtenden Strahlen über dem Hamberg blitzten und die ruhig liegende, noch schlafende Wasserfläche in pures Gold verwandelten.
Noch einmal wollte der Vater seine Kinder umarmen. Da kräuselte sich der Spiegel des Sees - und hervor schoss die Wasserfrau. Ihre langen Arme reckten sich gierig aus der klaren Flut. Starr vor Schreck standen die Kinder. Kaum bemerkten sie, dass ein dunkler Körper, einem Schatten gleich, an ihnen vorbeisauste und ins Wasser plumpste. Zwei Arme griffen eilig zu, und mit dem Ausruf: "Hah, hab' ich Euch endlich!" verschwand die Wassermuhme in der Tiefe. Der Vater, der blitzschnell erkannte, was geschehen war, zog die erschreckten Kinder augenblicklich ans Ufer. Es war keine Sekunde zu früh, denn schon tauchte die Hexe zum zweiten Male prustend und kreischend am Bootssteg auf. Wie wild fuchtelte sie mit den blutenden Armen in der Luft, doch griffen ihre Hände über den Steg hinweg ins Leere. Darauf gebärdete sie sich wie rasend vor Schmerz. - Was war geschehen?
Der treue Mull war den Kindern unbemerkt gefolgt und hatte den scheußlichen Kopf der Wassermuhme auftauchen sehen. Da er die große Gefahr für Peter und Lenchen erkannte, war er sofort ins Wasser gesprungen und hatte die schreckliche Gestalt mutig in die langen Arme gebissen, die ihn bereits umfassten und mit sich in die Tiefe zogen. Gar bald erkannte die Wassermuhme, dass sie das Spiel verloren hatte. Die Kinder waren gerettet und auch der treue Mull hatte sich befreien können. Freudig wedelte er mit dem Schwanze und schüttelte wie toll sein nasses Fell. Dann sprang er um die Kinder herum und blinzelte in die helle Sonne.
Noch einmal erhob das Wasserweib, seine geballten Hände und rief. "Ich habe das Spiel verloren! Der Hund hat Euch gerettet! Doch werde ich mich rächen und alljährlich, solange dieser See besteht, unvorsichtige Menschenkinder zu mir in die Tiefe ziehen. Außerdem bleibt die dritte, die größte Glocke, die ich nun nicht herausgebe, auf dem Grunde des Sees."
Wie fröhlich ging es aber trotzdem Ostern im Fischerhause zu. Der Fischer erzählte alles seiner Frau, und beide dankten dem gütigen Geschick für die Erhaltung ihrer Kinder. Der treue Mull bekam von jetzt ab einen viel besseren Knochen und alljährlich am Ostermorgen einen großen Napf voll süßer Milch. Die Familie lebte noch lange einträchtig beieinander. Die Glocke aber wurde bis auf den heutigen Tag nicht gefunden. Sie liegt noch irgendwo auf dem Grunde des Sees. Doch soll sie, wie alte Leute wissen wollen, an jedem Ostermorgen in der Frühe an die Oberfläche kommen und eine kleine Viertelstunde lang läuten. Aber nur Sonntagskinder können sie hören und sehen.
Der früher namenlose See heißt heute Glocken-, Kloggen- oder Ploggensee. Die alte Wasserhexe, dei Watermöhm, scheint noch jetzt darin zu hausen, denn alljährlich findet ein Menschenkind den Tod in seinem nassen Element.